Die Union von Horodło vor europäischem Hintergrund

Am frühen Morgen des 24. März 1603 starb Elisabeth I. (1533-1603), Königin von England, im Richmond Palace an der Themse. Sie war 69 Jahre alt. Kaum acht Stunden später wurde Jakob VI. (1566-1625), König von Schottland, in Whitehall und in London als König ausgerufen. Alles war seit Langem sorgfältig vorbereitet worden. Jakob wurde König nach dem englischen Erbrecht, obwohl die Erklärung den Statuten des Parlaments aus der Zeit von Heinrich VIII. (1491-1547) widersprach, die der Linie von Margaret (1489-1541), der älteren Schwester Heinrichs, die natürlichen Rechte auf den englischen Thron genommen hatten zugunsten von dessen Sohn Edward und der Erben seiner jüngeren Schwester Maria (1496-1533). Doch diese Statuten hatten weder die Thronbesteigung von Maria Tudor noch von Elisabeth selbst nach dem Tod von Edward verhindert. Jakob war offenkundig der beste Prätendent auf den erblichen englischen Thron. Heinrich VII. (1457-1509) war sein Urahn nicht nur mütterlicher-, sondern auch väterlicherseits über seinen Vater Henry Stewart (1495–1552), Lord Danley, einen Enkel von Margaret Tudor aus ihrer zweiten Ehe mit Archibald, dem sechsten Earl of Angus.

Elisabeths Staatssekretär, Robert Cecil (1563-1612), hatte schon lange verstanden, dass Jakob nicht nur der beste, sondern auch der fähigste Kandidat für den Thron war. Schon vor langer Zeit hatte er mit dem künftigen König Kontakt aufgenommen, und nach dem Tod der Königin jagte Sir Robert Carey (1563-1612) sofort zu Pferd nach Edinburgh; drei Tage später kam er mit der Nachricht an. Nachdem Jakob rasch seine Angelegenheiten in Schottland geordnet hatte, verließ er Edinburgh am 5. April. Von seinen neuen Untertanen wurde er großartig aufgenommen. Sie strömten in Massen auf die Straßen, um ihn zu sehen und zu grüßen. Von Berwick bis London waren, wie er sich selbst erinnerte, „alle Wege mit Menschen gepflastert“[1].

Die Freude war nahezu allgemein verbreitet, und die sogenannte „Union der Kronen“ zwischen Schottland und England nahm einen fast problemlosen Anfang, obwohl es im rechtlichen Sinn keinerlei Union der Kronen gab, denn trotz aller Bemühungen Jakobs in den ersten Jahren seiner Herrschaft in England blieben die Kronen getrennt und aus der „Perfect Union“, für die Jakob mit ungeheurem Eifer warb, wurde nichts. Mit seiner königlichen Prärogative rief er sich zu „Jakob I., König von Großbritannien“ aus und bewilligte eine neue Unionsflagge, die berühmte „Union Flag“ von 1606. Obwohl viele Schotten – darunter David Hume of Godscroft (1558–1629) und Sir Thomas Craig (ca.1538-1608) – für die „Perfect Union“ warben, d. h. für eine tatsächliche beziehungsweise Realunion, verwarf das englische Parlament alle Vorschläge des Königs. Der einzige Schritt in Richtung einer engeren Union war die faktische Einbürgerung von Schotten, die nach Jakobs Thronbesteigung in England geboren waren (die sogenannten post nati), was im Jahr 1608 gegen das Parlament geschah und nach einem Gerichtsurteil im Fall eines schottischen Landbesitzers namens Calvin, der Landgüter in England geerbt hatte. So war die schottisch-englische Union – abgesehen von einem kurzen Zeitraum zwischen 1654 und 1660, als Oliver Cromwell (1599-1658) mit Gewalt eine Realunion schuf – bis zum Jahr 1707 rein personal. Jakob und seine Nachfolger herrschten nicht über einen Einheitsstaat, sondern über einen zusammengesetzten Staat, den Conrad Russell (1937-2004) als „multiple monarchy“ beschrieben hat.[2]

So war die schottisch-englische Union eine Personal- bzw. dynastische Union und dem Verständnis der großen Mehrheit der polnischen Historiker nach somit auch der polnisch-litauischen Union ähnlich, zumindest wenn es um den Zeitraum zwischen der Union von Radom-Wilna und der Union von Lublin geht, als – wie nahezu überall zu lesen ist – das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen entweder durch eine Personalunion (unter Kasimir dem Jagiellonen (1427-1492), Alexander (1461-1506) – nach 1501 –, Sigismund dem Alten (1467-1548), Sigismund August (1520-1572) und – wohl – Jagiełło (1362-1434)) oder durch eine dynastische Union (unter Władysław von Warna (1424-1444), Johann Albrecht (1460-1501) und – wohl – Jagiełło) verbunden waren. Aber wie sah eine „Personalunion” und wie eine „dynastische Union” aus? Ich stelle diese Frage, weil, wie die Thronbesteigung Jakobs I. in England zeigt, die schottisch-englische Union vor 1707 in vieler Hinsicht völlig anders war als die polnisch-litauische Union bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Man muss also die Frage stellen: Kann man beide Unionen tatsächlich mit dem gleichen, sehr allgemeinen Ausdruck bezeichnen?

Die Historiker interessieren sich allerdings wenig für das Problem. Schon 1882 hat Georg Jellinek (1851-1911) festgestellt, dass es in Europa vor dem Ende des 19. Jahrhunderts Einheitsstaaten praktisch nicht gab und zusammengesetzte Staaten die Norm waren. Aber selten beschäftigt sich jemand mit der Typologie von Personalunionen, wie Heinz Duchhardt schreibt.[3] Jellinek war wohl der letzte Wissenschaftler, der im Rahmen seiner umfassenden Studie von politischen Unionen ernsthaft eine derartige Typologie aufzustellen versucht hat. Eigentlich zählte er Personalunionen nicht zu seiner Kategorie juridischer Unionen und meinte Personalunionen seien historische Einzelfälle, die zufällig durch die willkürlichen Schicksale von Herrscherfamilien zustande kämen; er bezeichnete sie als „historisch-politische Verbindungen”. Solche Unionen waren rein personengebunden: Jedes Königreich blieb für sich, und das einzige Bindeglied war der gemeinsamen Monarchen. Genau aus diesem Grund interessieren sich Historiker wenig für Personalunionen, denn sie glauben, es seien eigentlich zufällige Gebilde gewesen: In England starb Edward VI. (1537-1553) ohne Ehefrau und Kind; Elisabeth I wollte nicht heiraten. Die britisch-hannoversche Union endete 1837 aufgrund des Salischen Gesetzes, das in Hannover galt, aber nicht in Großbritannien. Im Mittelalter gab es eine Vielzahl solcher Unionen, aber die meisten von ihnen waren kurzlebig. Doch Jellinek erkannte, dass die Sache nicht so einfach war. In manchen Unionen behandelten die Monarchen ihre Domänen nicht unterschiedlich, und mit der Zeit wurden aus manchen dieser zusammengesetzten Staaten – zum Beispiel aus der schottisch-englischen Union oder aus der Union von Kastilien und Aragon – durch einen formalen Unionsvertrag oder durch eine institutionelle Fusion juridische Unionen, mithin Realunionen.[4]

War die polnisch-litauische Union vor der Union von Lublin tatsächlich eine Personalunion oder eine dynastische Union? Meiner Ansicht nach war sie, entsprechend den Kategorien von Jellinek, keine historisch-politische Union, sondern von Anfang an eine juridische/reale Union, und das nicht nur deshalb, weil sie auf der Grundlage einer Reihe von Unionsverträgen definiert war, sondern auch, weil nach der Union von Horodło (1413) die beiden Teile des Jagiellonenstaats durch die Vision einer konstitutionellen, also begrenzten Monarchie verbunden waren, wie sie in den Unionsverträgen zum Ausdruck kam, sowie durch die Institution der Wählbarkeit des Throns beziehungsweise der Throne. Die überwältigende Mehrheit der Personalunionen bildete sich zwischen Erbkönigreichen. Doch obwohl der Grundsatz der Erblichkeit des Throns im Großfürstentum Litauen aufrechterhalten wurde, waren die Grundsätze der Erblichkeit andere als im Westen. Das litauische Recht kannte kein Erstgeburtsrecht, und das System der Nominierung eines Nachfolgers durch den Großfürsten wurde schon infrage gestellt, bevor Jagiełło den polnischen Thron bestieg.

Eine solche Betrachtungsweise der Union war sehr attraktiv. Trotz aller stürmischen Phasen in den polnisch-litauischen Beziehungen – vom Streit um die Krönung zwischen Jagiełło und Vytautas (1428–30) bis zum Sejm von Lublin – war die Union nicht von kurzer Dauer. Von der Krönung Jagiełłos im März 1386 bis zur dritten Teilung 1795, als die Union ohne Zustimmung ihrer Bürger aufgehoben wurde, blieb sie 409 Jahre bestehen. Die englisch-schottische Union ist bis zum heutigen Zeitpunkt gerechnet über 417 Jahre alt geworden, wenn auch nicht ohne Turbulenzen, wenn man nur an das letzte (wobei) verlorene Unabhängigkeitsreferendum der Schotten von 2014 denkt. Meiner Ansicht nach lässt sich diese Langlebigkeit der polnisch-litauischen Union nur erklären, wenn man in Betracht zieht, dass Polen und Litauen von Anfang an durch mehr verbunden waren als nur durch die Person des Monarchen. Ich glaube deshalb nicht, dass die Union 1430 durch die Wahl von Świdrygiełło (1370-1452) zum Großfürsten aufgehoben oder gebrochen wurde, ebenso wenig zehn Jahre später durch die Wahl von Kasimir dem Jagiellonen oder 1492 durch die Wahl von Alexander.

Warum nicht? Der Grund liegt in der Natur der Unionsverträge, also der alten Register, wie die Zeitgenossen schrieben. Denn es ist von Anfang an klar, dass es die Absicht nicht nur Jagiełłos, sondern auch der Repräsentanten der communitas regni Poloniae war, etwas Größeres als eine reine Personalunion zu schaffen. Dafür steht das berühmte Wort applicare im Text des Krewo-Abkommens von 1385, dem Dokument, das den Weg für die Union geebnet hat. Wie Wacław Uruszczak gezeigt hat, war das Konzept der Union im römischen Recht, im Feudalrecht oder im deutschen und polnischen Recht unbekannt. Es kam lediglich im kanonischen Recht vor, in welchem der Begriff applicare im Zusammenhang stand mit der Vereinigung kirchlicher Wohlfahrtseinrichtungen und Kirchengemeinden auf Grundlage einer Gleichheit beider Entitäten (unio aeque principalis or unio aeque principaliter).[5] In ähnlicher Weise enthielt die erste Klausel der Union von Horodło aus dem Jahr 1413 eine Reihe von Synonymen, aus denen hervorgeht, dass das Großherzogtum Litauen in das Königreich Polen aufgenommen worden war. [6] Polskiego. Jedoch gab es 1603 keinen formellen Vertrag über die Verbindung von Schottland und England, auch wenn verschiedene Dokumente zur Verwaltung Schottlands während der Abwesenheit Jakobs angefertigt wurden; Es gab keine Synonyme, die auf eine Inkorporation hingewiesen haben und es war klar, dass die beiden Königreiche in der sogenannten Union der Kronen getrennt blieben. Natürlich waren Verträge und Abmachungen zu Beginn von gewöhnlichen Personalunionen völlig normal: Wie Paszkiewicz (1897-1979) festgestellt hat, war der Akt von Krewo viel kürzer als die Urkunde mit den Verpflichtungen gegenüber Polen, die 1355 von Ludwig von Ungarn (1326-1382) angenommen wurde.[7] Aber diese Urkunde war, wie ähnliche solche Abkommen, kein Unionsvertrag. Weder damals noch im Jahr 1370 wollte Ludwig mehr als eine reine Personalunion schaffen. Ähnlich war in den Verträgen von Cervera zwischen Isabella von Kastilien (1451-1504) und Ferdinand von Aragon (1452-1516) von 1469 nur von praktischen Angelegenheiten die Rede, für den Fall, dass Isabella Königin von Kastilien werden sollte. Sie schufen keine juridische oder reale Union. Wie John Elliott schreibt, waren die Verträge für Ferdinand eine Demütigung: Sie forderten, dass er seinen Wohnsitz in Kastilien nehme, und bestimmten, dass er bei der Regierung des Königreichs seiner Frau untergeordnet sei. Der Vertrag von Segovia von 1475, nach Isabellas Thronbesteigung, war milder. Er erlaubte Ferdinand, den Titel „König von Kastilien” zu tragen, und gestand ihm sogar den Vorrang in Urkunden zu, die im Namen beider Monarchen ausgefertigt würden. Doch das imperium blieb klar in den Händen von Isabella. Sie wurde als herrschende Königin bezeichnet, und auch wenn Ferdinand den Königstitel trug, war er in Wirklichkeit ein Prinzgemahl. Es wurde ausdrücklich verboten, dass Ferdinand nach dem Tod von Isabella den kastilischen Thron erbte. Und so kam es auch. Isabella starb im November 1504; gemäß ihrem Testament verlor Ferdinand den Titel des Königs von Kastilien und wurde – aufgrund der Krankheit von Isabellas Tochter Johanna (1479-1555) – nur Regent.[8]

Anders war es in der polnisch-litauischen Union, auch wenn Jagiełło sich nach dem Tod Jadwigas (1373/1374-1399) nach Rotruthenien zurückzog. Dabei handelte es sich höchstwahrscheinlich eher um ein politisches Manöver, bei dem er nach einer Lösung der Frage nach den Rechten auf den polnischen Thron suchte, nicht nur seiner eigenen, sondern auch der seiner künftigen Nachkommen. Aber auch wenn Jagiełło der tatsächliche König Polens war, und nicht nur der Prinzgemahl von Jadwiga, wurde die Frage nicht gelöst, und die Polen wahrten den Grundsatz der Thronwahl, wenn auch unter Anerkennung natürlicher Rechte, die Jagiełło nicht besaß.

Die Problematik bezüglich der Thronfolge spielte eine zentrale Rolle in der Geschichte der polnisch-litauischen Union von Krewo bis Lublin. Ihre Entwicklung wurde in hohem Maß bestimmt durch die Beziehungen zwischen Jagiełło und Witold (1354/1355-1439) nach dem Vertrag von Ostrowo. Das Abkommen von Horodło, das von den Vettern sorgfältig vorbereitet worden war, führte im Hinblick auf die Wählbarkeit des Throns zwei wichtige Grundsätze in die polnisch-litauischen Beziehungen ein. Jagiełło hatte noch keinen Sohn, aber er hatte bereits eine Erbin in Gestalt seiner Tochter Jadwiga, deren natürliche Rechte auf den polnischen Thron 1413 formell anerkannt wurden. Doch das litauische Recht erkannte die Thronfolge durch eine Frau nicht an. Jagiełło war schon nicht mehr der Jüngste, und so war es für ihn – und für Witold – wichtig, die Union und die Interessen der Gediminiden-Dynastie abzusichern, indem sie die Wählbarkeit des Throns einschränkten. So wurde in Horodło bestimmt, dass „die Prälaten, Barone und Adligen des Königreichs Polen, wenn der König von Polen [ohne] legitime Nachkommenschaft stirbt, sich keinen König und Herrn wählen“ dürfen „ohne Wissen und Rat“ von Witold und der Barone und Adligen der litauischen Gebiete. Ebenso wurde die Möglichkeit – aber nicht die Notwendigkeit – geschaffen, nach dem Tod Witolds einen neuen Großfürsten zu wählen.[9]

Ähnliche Bestimmungen gab es in anderen Personalunionen nicht. Über die Nachfolge in Kastilien entschied Isabella; in Großbritannien stärkten die Hinrichtung Karls I (1600-1649). und die Zeit des Bürgerkriegs nach der Restauration die Attraktivität einer Erbmonarchie. Das Parlament enthob Jakob II. (1633-1701) 1688 mit großem Widerwillen des Throns, was zur Folge hatte, dass die Jakobiten über ein halbes Jahrhundert lang für die Erbmonarchie und gegen das Recht des Parlaments, die Thronfolge zu regeln, kämpften. Genau deshalb wollten das englische Parlament und die schottischen Whigs 1707 die Parlamentsunion einführen, um die Union vor ihrer Aufhebung nach dem Tod von Königin Anne (1655-1714) zu bewahren.

In der polnisch-litauischen Union war es anders. Während die Söhne Jagiełłos um ihre Rechte auf den Thron kämpften, verteidigten die Polen das Wahlprinzip. Dagegen war die Einführung der Wählbarkeit des großfürstlichen Throns in Horodło ein Wendepunkt in der Entwicklung des politischen Lebens in Litauen. Traditionell wurde und wird die litauische Politik von Witold bis zur Union von Lublin als Kampf um die litauische Souveränität und die Eigenständigkeit des litauischen Staats dargestellt.[10] Aber die Frage des sogenannten „litauischen Separatismus” ist komplizierter. Natürlich verteidigten die Litauer die Eigenständigkeit des Großfürstentums und kämpften gegen die Vision von einer Einverleibung, wie sie Zbigniew Oleśnicki (1389–1455), und andere polnische Politiker hegten. Aber das bedeutet nicht, dass sie für die Unabhängigkeit eines souveränen Nationalstaats kämpften. Die Menschen im 15. Jahrhundert dachten nicht in modernen Kategorien. Man darf hier nicht – wie Jellinek und viele andere es getan haben – das moderne Konzept einer ungeteilten Souveränität aus den Zeiten nach Jean Bodin (1530-1596), Thomas Hobbes (1588-1679) und dem Westfälischen Frieden in Anwendung bringen.

Nach Horodło stand das Problem des litauischen Throns genau deshalb im Zentrum der polnisch-litauischen Beziehungen, weil Horodło den Grundsatz der Wählbarkeit eingeführt hatte. Oskar Halecki (1891-1973) hat treffend festgestellt, dass mit der Wahl von Kasimir dem Jagiellonen 1440 „kein völliger Bruch der Union eintrat […] sondern ein Bruch aller ihrer bisherigen Festlegungen”[11]. Aber durch wen? Man hat oft geschrieben, dass die Litauer durch die Wahl von Kasimir die Union vorsätzlich aufgelöst hätten. Doch woher hatten sie das Recht, Großfürsten zu wählen? Sie hatten es einzig und allein auf der Grundlage von Horodło – also auf der Basis der Union. Wie dem auch sei, die Litauer haben Horodło nicht zuerst gebrochen. Nach dem Tod von Witold wollte Jagiełło die Wahl eines neuen Großfürsten nicht erlauben, denn es fehlte ihm an einem geeigneten Kandidaten, und er wollte das Großfürstentum von Krakau aus selbst regieren. Nach den Krönungsunruhen passte den Litauern diese Entscheidung nicht, vermutlich weil es keine Beratung mit dem litauischen Rat gegeben hatte, auch wenn Jagiełło den Rat von Witold auf dem Totenbett gesucht hatte. In ähnlicher Weise sorgte Oleśnicki nach dem Tod von Jagiełło selbst schnell für die Wahl von Władysław von Warna, jedoch ohne eine Beratung mit den Litauern, wie sie im Vertrag von Horodło vorgesehen war. Am auffälligsten war allerdings das Fehlen von Beratungen im Jahr 1440. Vor seinem Aufbruch nach Ungarn entschied sich Władysław, erneut ohne Beratung, seinen Bruder nach Wilna zu schicken, aber nicht als Großfürsten, sondern als einfachen Regenten. Zehn Jahre nach den Krönungsunruhen, in denen die Litauer um die Position des Großfürstentums im Rahmen der Union gekämpft hatten, war diese Entscheidung unangebracht und überging völlig die Gefühle der Litauer. Nach Jan Długosz (1415-1480) baten die Litauer die polnischen Gesandten inständig, eine Wahl von Kasimir gemäß den Bestimmungen von Horodło zu gestatten, aber die Polen blieben unnachgiebig. So sah eine polnische Konsultation aus. Schließlich, am 29. Juni 1440, als die Polen noch in ihren Betten lagen, wählten die Litauer Kasimir zum Großfürsten.[12]

Die Wahl von Kasimir zeigt, dass die Litauer nicht gegen die Union an sich auftraten, sondern gegen ihre inkorporierende Interpretation durch die Polen. Seit den Zeiten von Witold kämpften sie für die Gleichstellung des Großfürstentums mit dem Königreich Polen im Rahmen der Union. Zu Beginn der Herrschaft von Kasimir dem Jagiellonen als König von Polen kämpften sie nicht um die Annullierung oder Aufhebung der Unionsverträge, sondern um die Eliminierung der früheren inkorporierenden Bestimmungen aus ihnen. 1453 in Parczew lehnten die Polen endgültig ab, aber dennoch überdauerte die Union länger als ein Jahrhundert. Polen und Litauer waren sich einig, dass sie sich über die Natur der Union nicht einig waren. Aber die Litauer forderten nicht die Aufhebung der Verträge, denn genau auf diese Verträge stützte sich die Vision von einer konstitutionellen Monarchie, d. h. jeglicher Einschränkung der Macht der Großfürsten: Nach Świdrygiełło und Sigismund Kęstutaitis (1365-1440) wollten sie nicht zu einer patrimonialen Monarchie zurückkehren. Sie erinnerten sich gut daran, was in diesen Verträgen geschrieben stand: Olbracht Gasztold (1480-1539) appellierte nach der Erhebung des orthodoxen Ruthenen Konstanty Ostrogski (1460-1530) zum Wojewoden von Trakai im Jahr 1522 an Horodło, und Mikołaj Radziwiłł der Schwarze (1515-1565) verteidigte die litauische Interpretation der Unionsverträge beim Sejm in Warschau 1564 geschickt auf der Grundlage der Unionsverträge.

Im 17. Jahrhundert unterschied der spanische Jurist Juan Solórzano de Pereira (1575-1655) eine Union auf der Basis von Inkorporation von einer Union aeque principaliter, in der beide Seiten ihre jeweiligen Identitäten, Rechte und Privilegien bewahrten. Die Litauer verteidigten die Konzeption der Union aeque principaliter über ein Jahrhundert lang.[13] Diese Vorstellung war eine völlig berechtigte Interpretation des Vertrags von Horodło, in dem von einer brüderlichen Union die Rede war, in der die beiden Seiten sich zu gemeinsamer Beratung in gemeinsamen Angelegenheiten verpflichteten – von denen die Thronfolge die wichtigste war. Bekanntlich gab es auch im Vertrag von Horodło eine lange Liste von Synonymen zu „Inkorporation“, somit hatte auch die polnische Interpretation ihre Berechtigung. Aber die Polen waren von Anfang an in der Frage der Inkorporation nicht völlig klar. In was wurde, ihrer Ansicht nach, Litauen inkorporiert? In das polnische Königreich oder in die corona regni Poloniae, also in einen Staat oder in die communitas regni oder in eine einzige res publica? Und was war das für eine Inkorporation? Jellinek hat festgestellt, dass die Zeitgenossen von vollständigen und unvollständigen Inkorporationen sprachen (incorporatio plena und incorporatio minus plena). Er selbst hat diese Begriffsbildung jedoch verworfen, denn Grundlage seiner Theorie waren Jean Bodins Konzeption von der unteilbaren Souveränität und der Begriff des Staats als einer Rechtsperson. Allerdings wurden diese Begriffe – wie selbst Jellinek zugibt – erst seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geprägt, und Jellinek räumt gleichsam widerwillig ein, dass davor völlig andere Konzepte berechtigt waren, die ihre Grundlage im kanonischen oder natürlichen Recht hatten und nicht im Grundsatz einer lex gentium, die es noch nicht gab.[14]

Zum Schluss möchte ich nur bemerken, dass, obwohl eine Vielzahl von Historikern der Meinung ist, die polnisch-litauische Union sei vor dem Sejm von Lublin eine reine Personalunion oder dynastische Union gewesen, diese Einschätzung nicht mit dem damaligen Verständnis der Polen während dieser Zeit übereinstimmt. Ihnen zufolge war das Großfürstentum Litauen dem Königreich Polen einverleibt worden, auf der Grundlage der Unionsverträge, die niemals aufgehoben wurden. Diese Vorstellung verteidigten sie konsequent. Die Litauer hatten eine andere Vorstellung von der Union, nämlich als einem Übereinkommen aeque principaliter. In gewissem Sinn gewannen sie 1569 in Lublin, auch wenn sie Wojewodschaften in der Ukraine verloren. Denn sie überzeugten die Polen, dass die Union grundsätzlich ein Verhältnis aeque principaliter sei. Der Vertrag von Lublin schuf eine Republik – eine communitas regni – aber die Litauer bewahrten den Grundsatz, dass es in dieser Union zwei Staaten innerhalb der Republik beider Nationen gab. Die incorporatio war minus plena.

Aus dem Polnischen von Martin Faber

Robert I. Frost: Uni horodelska na tle europejskim, in: Unia w Horodle na tle stosunków polsko-litewskich. Od Krewa do zaręczenia wzajemnego Obojga Narodów, Warszawa 2015, S.111-117.

Ausgewählte Literatur:

Akty Unji Polski z Litwą 1385-1791, hg. von Stanisław Kutrzeba / Władysław Semkowicz, Kraków 51 (1932).

Sir Thomas Craig: De Unione Regnorum Britanniae Tractatus, hg. und übers. von Charles Sandford Terry, Edinburgh 1909.

Pauline Croft: King James, Basingstoke 2003.

Heinz Duchhardt: Vorwort, in: ders. (Hg.): Der Herrscher in der Doppelpflicht. Europäische Fürsten und ihre beiden Throne, Mainz 1997.

Bronius Dundulis: Lietuvos kova dėl valstybinio savarankiškumo XV amžiuje, Vilnius 1993.

Jan Długosz: Joannis Dlugossii Annales seu Chronicae regni Poloniae, liber XI et liber XII (1431-1444), consilium ed. Krzysztof Baczkowski, Varsaviae 2001, S. 253f.

John Edwards: The Spain of the Catholic Monarchs 1474-1520, Oxford 2000.

John H. Elliott: Imperial Spain, London 1963.

John H. Elliott: A Europe of Composite Monarchies, in: Past & Present 137 (1992), S. 48-71.

Robert Frost: The Oxford History of Poland-Lithuania, 1 The Making of the Polish-Lithuanian Union, 1385–1569, 2nd impression, Oxford, 2017.

Bruce Galloway: The Union of England and Scotland 1608-1608, Edinburgh 1986.

Oskar Halecki: Dzieje unii jagiellońskiej, Bd. I, Kraków 1919.

Georg Jellinek: Die Lehre von den Staatsverbindungen, Berlin 1882.

Brian Levack: The Formation of the British Union. England, Scotland and the Union 1603-1707, Oxford 1987.

Paul J. McGinnis / Arthur H. Williamson (Hg): The British Union: A Critical Edition and Translation of David Hume of Godscroft’s De Unione Insulae Britannicae, Aldershot 2002.

Henryk Paszkiewicz: O genezie i wartości Krewa, Warszawa 1938.

Conrad Russell: Composite monarchies in early modern Europe. The British and Irish example, in: Alexander Grant / Keith Stringer (Hg.): Uniting the Kingdom: the Making of British History, London 1995.

[1] Zit. nach Pauline Croft: King James, Basingstoke 2003, S. 50.

[2] Paul J. McGinnis / Arthur H. Williamson (Hg): The British Union: A Critical Edition and Translation of David Hume of Godscroft’s De Unione Insulae Britannicae, Aldershot 2002; Sir Thomas Craig: De Unione Regnorum Britanniae Tractatus, hg. und übers. von Charles Sandford Terry, Edinburgh 1909; Brian Levack: The Formation of the British Union. England, Scotland and the Union 1603-1707, Oxford 1987, S. 1-3; Bruce Galloway: The Union of England and Scotland 1608-1608, Edinburgh 1986, S. 106-119, 148-157; Conrad Russell: Composite monarchies in early modern Europe. The British and Irish example, in: Alexander Grant / Keith Stringer (Hg.): Uniting the Kingdom: the Making of British History, London 1995, S. 133.

[3] Georg Jellinek: Die Lehre von den Staatsverbindungen, Berlin 1882, S. 5 f.; Heinz Duchhardt: Vorwort, in: ders. (Hg.): Der Herrscher in der Doppelpflicht. Europäische Fürsten und ihre beiden Throne, Mainz 1997, S. 3.

[4] „Die Personalunion ist daher keine juristische, sondern eine historisch-politische Staatenverbindung. Sie ist rechtlich zufällige Gemeinschaft mehrerer Staaten durch die Person des Herrschers, welcher juristisch so viele Persönlichkeiten enthält, als er Staaten regiert.“ Jellinek, Lehre, S. 42f., 63-68, 82-88.

[5] Wacław Uruszczak: ‘Unio regnorum sub una corona non causat eorum unitatem’, Unia Polski i Litwy w Krewie w 1385 r. Studium Historyczno-Prawne, Kraków, 2017, S. 42–43. Robert Frost: The Oxford History of Poland-Lithuania, 1 The Making of the Polish-Lithuanian Union, 1385–1569, 2nd impression, Oxford, 2017, S. 57.

[6] R. Frost: Making of the Polish-Lithuanian Union, S. 109–27.

[7] Henryk Paszkiewicz: O genezie i wartości Krewa, Warszawa 1938, S. 226f.

[8] John H. Elliott: Imperial Spain, London 1963, S. 9 f., 127; John Edwards: The Spain of the Catholic Monarchs 1474-1520, Oxford 2000, 11, 13, 21–28.

[9] Akty Unji Polski z Litwą 1385–1791, hg. von Stanisław Kutrzeba / Władysław Semkowicz, Kraków 1932, Nr. 51, S. 67f.

[10] Am konsequentesten von Bronius Dundulis: Lietuvos kova dėl valstybinio savarankiškumo XV amžiuje, Vilnius 1993.

[11] Oskar Halecki: Dzieje unii jagiellońskiej, Bd. I, Kraków 1919, S. 331.

[12] Jan Długosz: Joannis Dlugossii Annales seu Chronicae regni Poloniae, liber XI et liber XII (1431-1444), consilium ed. Krzysztof Baczkowski, Varsaviae 2001, S. 253f.

[13] John H. Elliott: A Europe of Composite Monarchies, in: Past & Present 137/1992, S. 52f.

[14] Jellinek, Lehre, S. 68f.