Einführung

Die Hofkorrespondenzen Ursula Meyers:

Dynastische Netzwerke um 1600 zwischen Warschau, München, Graz und Wien

Ursula Meyer war dem Rang nach eine einfache Bedienstete am polnischen Hof des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts. Die Kammerdienerin wurde nichtsdestoweniger zur Korrespondenzpartnerin von Erzherzoginnen, Kurfürsten und sogar dem Kaiser. Seit ihrer Ankunft am polnischen Hof im Jahr 1592 bis zu ihrem Tod 1635 gewann Meyer eine Vertrauensstellung bei den polnischen Königinnen Anna (1573-1598) und Konstanze von Habsburg (1588-1631) sowie bei König Sigismund III. Wasa (1566-1632) und seinem Sohn und Nachfolger Władysław IV. (1595-1648). Die bescheidene offizielle Position Ursula Meyers kontrastierte mit der ihr von außen zugeschriebenen höfischen Machtposition und Einflussnahme auf die beiden Königinnen sowie auf Sigismund III. Sie wurde schon zeitgenössisch als Favoritin betrachtet, über die ein Zugang zum Monarchen zu erhalten war und die zugleich eine beratende Funktion an der Seite der sukzessiven Königspaare einnahm.1

Das Briefcorpus

Die Briefe Ursula Meyers umfassen in ihren umfangreichsten überlieferten Teilen aus insgesamt 206 Briefen bestehende Korrespondenzen mit Maria Anna, Erzherzogin von Innerösterreich (1551-1608), mit dem bayerischen Herzog Wilhelm V. (1548-1626) und dem bayerischen Herzog bzw. Kurfürsten Maximilian I. (1573-1651), dem Fürstbischof von Breslau und Bischof von Brixen, Karl von Österreich (1590-1624), und Kaiser Ferdinand II. (1578-1637). Meyer ihrerseits schrieb dabei einen Großteil der Briefe an den Münchener Hof und den Kaiser im Namen und teils in sichtbarer Zusammenarbeit mit dem polnischen Königspaar, vor allem aber über lange Jahre im Namen von Königin Konstanze. Etwa ab 1612 korrespondierte Ursula Meyer mit dem 1597 abgedankten Herzog Wilhelm V. von Bayern. Von diesem Briefwechsel sind zwar nur 13 Briefe erhalten, aber die Klage des Herzogs aber, dass er seit zwei Monaten keinen Brief Meyers erhalten habe, weist auf einen ursprünglich deutlich größeren Umfang der Korrespondenz hin. Erst kurz vor seinem Tod, 1625, vererbte Wilhelm V. diese Korrespondenz an seinen Sohn Maximilian I. Letzterer regelte in einem seiner ersten Briefe den Modus der Beförderung und Inhalt der Briefe. Königin Konstanze nahm in ihren eigenhändigen Briefen an Maximilian I. immer wieder wörtlich Bezug zu diesem „Kontrakt“, der die Erledigung ihrer Korrespondenz in die Hände Meyers legte. Meyer agierte in diesen Fällen als Kommunikationsscharnier in Auftrag der polnischen Monarchen, ohne dass ihre agency bei der Kontinuität, der Darstellung und Einschätzung der kommunizierten Informationen unterbewertet werden sollte. Demgegenüber tragen allerdings ihre Korrespondenzen mit Maria Anna von Innerösterreich, der Mutter beider sukzessiver Königinnen Anna und Konstanze, einen anderen Charakter. Hier agiert Ursula Meyer nicht allein als Auftragsschreiberin. Vielmehr wird aus Meyers Briefen an die Erzherzogin deutlich, dass sie zugleich eine Rolle als Agentin der Schwiegermutter des polnischen Königs einnahm.

Neben den Briefen Ursula Meyers nach München, die im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München vorliegen, sind ebendort Konzepte der Briefe Wilhelms V., Maximilians I. und seiner Frau Elisabeth Renata überliefert. Eine geringfügige Trümmerüberlieferung in Form eines Originalbriefes von Maximilian I. findet sich auch im Archiwum Główne Akt Dawnych (AGAD) in Warschau. Die Briefe Ursula Meyers an die Erzherzogin Maria Anna und an Kaiser Ferdinand II. werden im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien verwahrt. In beiden Fällen fehlt hingegen die Gegenüberlieferung. Die Briefe Karls von Österreich an Ursula Meyer schließlich sind Teil des Bestands der schwedischen Extranea, die sich in Stockholm befinden und in Kopien im Warschauer AGAD vorliegen.

Dynastische Netzwerke – die Korrespondenzen in der Forschungsperspektive

Ursula Meyer war nicht die einzige Akteurin, die die Kommunikation zwischen dem polnischen Hof sowie den Höfen in München, Wien und Graz praktisch abwickelte und deren Kontinuität garantierte.2 Ebenso wenig beschränkte sich die Kommunikation zwischen den Höfen auf den Austausch schriftlicher Nachrichten. Es zirkulierten Personal, Objekte und Tiere sowie Boten mit mündlichen Nachrichten. Die Briefe Ursula Meyers sind in diesem Kontext nicht nur eine entscheidende Quelle, um die höfischen Netzwerke zwischen den Dynastien der Wasa, Wittelsbacher und Habsburger zu erschließen. Sie stehen zugleich selbst exemplarisch für die zwischen den Höfen praktizierten Austauschprozesse. Die Themen der Korrespondenzen besitzen dabei eine weite Spannbreite, die vom Alltagsleben am Hof und dem Austausch religiöser Praktiken, über Nachrichten zum Geschehen auf Ständeversammlungen und zu diplomatischen Verhandlungen bis hin zu militärischen Informationen und Abstimmungen reicht.

Die Briefe Meyers ermöglichen zudem – etwa neben Informationen zur Sprachsituation am Hof – insbesondere einen Einblick in das Alltagsleben auch des niederen Dienstpersonals, speziell in das Frauenzimmer der Königinnen. Aus der Perspektive neuerer Forschungen zu dynastischen Beziehungen im Europa der Frühen Neuzeit stellen die Korrespondenzen Meyers zudem einen Beitrag zur Bedeutung kognatischer Familienbeziehungen dar.3 Sie erlauben es in diesem Sinne am Beispiel der Königinnen und deren Verwandtschaftsbeziehungen auch einen Beitrag zu geschlechtergeschichtlichen Überlegungen zum frühneuzeitlichen Hof zu leisten.4 Nicht zuletzt in Hinsicht auf die Forschungen zum Polen-Litauen der Wasa-Zeit kann das Briefcorpus einen ergänzenden Beitrag zur Diskussion um die Rolle der Wasa-Herrscher im Allgemeinen und die Rolle von Monarch und Hof in den Außenbeziehungen im Besonderen leisten.5

Ursula Meyer – zwischen Phantasma und biografischer Leerstelle

Die außergewöhnliche Akteurin Ursula Meyer hat seit dem 19. Jahrhundert zahlreiche Phantasmen in Literatur und Geschichtsschreibung genährt. Ihren ersten prominenten Auftritt in historischen Narrativen hatte Ursula Meyer mit voller Wucht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: 1838 widmete ihr Dominik Magnuszewski die Erzählung „Die Rache des Fräulein Ursula“6 und kurze Zeit darauf entstand ein gemischt aufgenommenes Theaterstück von Konstanty Majeranowski, das in den 1840er Jahren in Krakau und Lemberg zur Aufführung kam7. Die dort entwickelten Hauptcharakteristika der Erzählung über Ursula finden sich zugleich auch in dem kurz zuvor erschienen populären Personal- und Sittenbild der Herrschaftszeit Sigismunds III. Wasa aus der Feder von Franciszek Siarczyński: Ursula Meyer war demnach eine Deutsche ungeklärter Herkunft, die zur Grauen Eminenz des polnischen Hofes aufstieg: „Sie vermochte alles beim König, und die Jesuiten vermochten […] alles bei ihr.“8

Damit waren wesentliche Grundlinien des Ursula-Bildes fabriziert, die bis in das beginnende 21. Jahrhundert nun nur noch gewisse Spielräume in Interpretation und Details aufwiesen. Am deutlichsten wurde dabei von Władysław Wisłocki ergänzend eingegriffen, der sich um einige Korrekturen bemühte. So bestand er darauf, dass die Liebschaften Ursulas mit König Sigismund III. oder gar mit seinem Sohn und Nachfolger Władysław nicht nachweisbar seien.9 Vor allem aber machte er Ursula zu einer loyalen polnischen Untertanin, die nicht mit den Habsburgern kollaboriert habe und sogar fließend Polnisch geschrieben und gesprochen habe. Letztere Erzählung findet sich schließlich resümierend bis in die Geschichtswissenschaften der 2000er Jahre.10

Fehlende Belege und Informationen über die Figur Ursula Meyer, gepaart mit dem Erstaunen über deren kontingentes Auftauchen und deren Rolle am Hof, hat zu einem fiktionalen Deutungsüberschuss geführt. Das grundlegende Dilemma bestand und besteht darin, dass angenommen wird, eine Frau ungeklärter Herkunft könne keine bedeutende Funktion an einem frühneuzeitlichen Königshof übernehmen. Entsprechend wurden ihr regelmäßig wahlweise höhere Ämter (Haushofmeisterin), Liebschaften mit königlichen Personen, Instrumentalisierung durch Jesuiten oder die illegitime Abstammung aus dem Haus Wittelsbach zugeschrieben. Eine Biographie Ursula Meyers kann dabei nur ein Schattenriss bleiben. Weder ihr Geburtsjahr ist genau zu rekonstruieren, noch ihre soziale Herkunft mit Sicherheit zu bestimmen. Über Ursulas Eltern ist lediglich bekannt, dass sie auf dem Friedhof der Münchner Frauenkirche beigesetzt wurden11; aufgrund des Testaments ihrer Mutter und des Berichts über ihren Tod, der 1621 an den polnischen Königshof gesandt wurde, ist zumindest bekannt, dass Anna Meyer bei ihrem Tod über Vermögen verfügte, aus dem vor allem Stiftungen gebildet wurden12. Das älteste Dokument, in dem Ursula Meyer erwähnt wird, ist die Hofliste des Grazer Hofes, wo sie als Kindermagd auftaucht13. In ihren Briefen an Maria von Innerösterreich, aber auch an Maximilian I., nimmt sie zuweilen Bezug zu Erlebnissen am Grazer Hof. Allerdings stiftete sie einen Altar, Messen und Stipendien in München, während über eine Stiftertätigkeit in Graz nichts bekannt ist.

Im Gefolge Anna von Österreichs, die 1592 mit König Sigismund III. Wasa verheiratet wurde, gelangte Ursula Meyer nach Polen.14 Im Auftrag der Mutter der Braut, Maria von Innerösterreich, hatte sie Berichte über die Tochter, deren Hof, Sigismund III. und dessen Hof zu verfassen und nach Graz zu senden. Maria von Innerösterreich hatte verschiedene Personen aus dem Umkreis ihrer Tochter damit beauftragt, ein Akteur dieser Parallelberichterstattung, Georg Schiechel, taucht in den Briefen Ursula Meyers immer wieder auf, wobei es zu einer Konkurrenzsituation um das Vertrauen der Auftraggeberin kam. Ursula Meyer reiste auch mehrfach an den Grazer Hof.15 Formell war Meyer eine von fünf Kammerdienerinnen der Königin. So war ihre Lage nach dem Tod der Königin Anna 1598 zunächst unklar. 1605 verheiratete sich Sigismund III. mit der Schwester seiner ersten Frau, Konstanze von Österreich. Sie stand, anders als ihre ältere Schwester, in enger Verbindung zum Münchner Herzogshof, was Ursula Meyer zu einer zentralen Akteurin dieser Beziehungen werden ließ. Im Übrigen bezeichnete Maximilian I. Meyer in den erhaltenen Konzepten seiner Briefe durchweg als „[Kammer]jungfrau“, einen Titel und eine Position, über die sie nicht verfügte. Ursula Meyer starb 1635, die Beisetzung fand in der Warschauer Jesuitenkirche statt.16


Fußnoten:

1 Walter Leitsch, Das Leben am Hof König Sigismunds III. von Polen, Bd. 3, Wien / Kraków 2009, 1851-1853.

2 An dieser Stelle kann nur auf einige wenige Personen verwiesen werden wie Georg Schiechel, den Kammerdiener Königin Konstanzes (vgl. W. Leitsch, Leben am Hof, Bd. 3, 1834-1848); Zygmunt Opacki, Kämmerer von Warschau, Hofadliger und oft im Zusammenhang mit dynastischen Missionen eingesetzt (vgl.zu seiner Tätigkeit und seinen Reisen: Zygmunt Opacki, Z Piaseczna w świat. Diariusz Zygmunta Opackiego z lat 1606-1651, ed. v. Zdzisław Pietrzyk, Kraków 2001; W. Leitsch, Leben am Hof, Bd. 3, 2081-2083.); Nikolaus Nusser von Nusseck o. Nussegg, kaiserlicher Kammerdiener, über den ein Teil der Kommunikation mit Wien abgewickelt wurde (vgl. vgl. Christian d’Elvert, Beiträge zur Geschichte der böhmischen Länder insbesondere Mährens im 17. Jahrhundert, Brünn 1878, LXXVI; Tomáš Knoz, Pobělohorské konfiskace. Moravský průběh, středoevropské souvislosti, obecné aspekty, Brno 2006, 235 Anm. 498, 237 Anm. 501, 788; W. Leitsch, Leben am Hofe, Bd. 3, 1794, 1913.).

3 Vgl. beispielsweise die Überlegungen bei: Liesbeth Geevers / Mirella Marini, Introduction: Aristocracy, Dynasty and Identity in Early Modern Europe, in: dies. (Hg.), Dynastic Identity in Early Modern Europe: Rulers, Aristocrats and the formation of identities, Farnham / Burlington 2015, 1-22, bes. 9-16.

4 Stellvertretend für die neuere internationale Forschung: Nadine Akkerman / Birgit Houben (Hg.), The Politics of Female Households. Ladies-in-waiting across Early Modern Europe, Leiden/Boston 2014; Giulia Calvi / Isabelle Chabot (Hg.), Moving Elites: Women and Cultural Transfers in the European Court System (EUI HEC Working Papers), San Domenico di Fiesole 2010; James Daybell / Svante Norrhem (Hg.), Gender and Political Culture in Early Modern Europe (1400-1800), Oxon / New York 2017.

5 Hier sei exemplarisch nur das an der Uniwersytet Śląski w Katowicach unter der Leitung von Ryszard Skowron laufende Editionsprojekt zu den Korrespondenzen der Wasa und der Habsburger genannt in dessen Rahmen schon ein erster Band vorliegt: Ryszard Skowron u.a. (Hg.), The House of Vasa and th House of Austria. Correspondence from the Years 1587 to 1668, Katowice 2016.

6 Dominik Magnuszewski, Zemsta panny Urszuli / Posiedzenie Bacciarellego malarza, ed. v. Kazimierz Bartoszyński, Poznań 1959.

7 Hilary Meciszewski, Urszula Mejerinn. Dramat historyczny z dziejów narodowych wierszem napisany, przedstawiony na scenie krakowskiej dnia 2go lutego 1846 r., in: Biblioteka Naukowego Zakładu im. Ossolińskich 2.1 (1847), 51-83; (ciąg dalszy / Fortsetzung) ebenda 2.2 (1847), 185-198; (dokończenie / Ende) ebenda 2.3 (1847), 284-320.

8 Franciszek Siarczyński, Obraz wieku panowania Zygmunta III. Króla Polskiego i Szwedzkiego. Część I, we Lwowie 1828, 312-313, hier 312.

9 Władysław Wisłocki, Urszula ochmistrzyni Łabędzianka i jej korespondencya polska z Piotrem Gembickim w r. 1627, Kraków 1877.

10 W. Leitsch, Leben am Hof, Bd. 3, bes. 1853f.; Stefania Ochman-Staniszewska, Dynastia Wazów w Polsce, Warszawa 2007, 270.

11 W. Leitsch, Leben am Hof, Bd. 3, 1864.

12 vgl. Regesten der Briefe Nr. 39 (Meyer an Maximilian I., Ujazdów, den 14. Juli 1626), Nr. 40 (Meyers an Johann Baptist Mörmann, Ujazdów, den 14. Juli 1626); Nr. 41 (Maximilian I. an Meyer, 6. August 1626); Nr. 47 (Meyer an Johann Baptist Mörmann, Warschau, den 4. Januar 1627).

13 W. Leitsch, Leben am Hof, Bd. 3, 1863.

14 ebenda, 1873.

15 ebenda, 1865.

16 ebenda, 1885.